C. Hollberg: Deutsche in Venedig im späten Mittelalter

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Titel
Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert


Autor(en)
Hollberg, Cecilie
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kurt Weissen

In den letzten Jahren liegt die Beschäftigung mit Testamenten offensichtlich im Trend der Geschichtswissenschaft, wie eine Vielzahl von Publikationen zeigt. In der Schweiz sind hier beispielsweise die Arbeiten von Gabriela Signori (2001) über Basler Testamente und Véronique Pasche (1989) über den letzten Willen von Bürgern der Stadt Lausanne zu nennen.

Notarielle Beurkundungen des letzten Willens eines Menschen enthalten in den meisten Fällen eine grosse Anzahl von Angaben über die Person des Testators, seine Vermögensverhältnisse und sein soziales Beziehungsnetz. Sie enthalten aber auch viele Informationen über seine religiösen Vorstellungen und den Umgang mit der anthropologischen Konstante Tod. Historiker unterschiedlichster wissenschaftlicher Richtungen werten deshalb Dokumente dieser Quellengruppe seit langem für ihre Fragestellungen aus. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kulturanthropologie und Gender History arbeiten mit grossem Erkenntnisertrag mit diesen Urkunden. Da Notare mit der Beglaubigung von Testamenten meist nur von Menschen beauftragt wurden, die das Weitergeben von Besitz zu regeln hatten, bleibt die Perspektive in den allermeisten Fällen auf Adel, Patriziat oder Kaufmannsfamilien beschränkt.

Die deutsche Wohnbevölkerung in Venedig umfasste im 15. Jahrhundert einige Tausend Personen in einer Stadt von etwas mehr als 100 000 Einwohnern. Seit den grundlegenden Arbeiten von Philipp Braunstein über diese Bevölkerungsgruppe ist die Existenz zahlreicher Testamente von Deutschen im Staatsarchiv der Lagunenstadt bekannt. Hollberg hat aus diesen Beständen eine Stichprobe von 181 letztwilligen Verfügungen gezogen, die das Ergebnis aufwändiger fast kriminalistischer Sucharbeit darstellen. Leider fiel der Plan, wenigstens ein paar dieser Texte zur Illustration im Wortlaut abzudrucken, dem kleinen Druckbudget zum Opfer. So muss man sich mit der Reproduktion einer Textseite auf dem Buchumschlag begnügen. Hollberg zählte zu ihrer Untersuchungsgruppe all jene, die sich selber als tedesco bezeichneten, deutschsprachig waren oder aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nach Venedig emigriert waren. Vier der Erblasser lassen sich als Bäcker aus Basel identifizieren. Die Zusammensetzung ihrer Auswahl weist einen Anteil von etwa 85% Handwerkern auf, während die Kaufleute nur gerade etwas mehr als 10% ausmachen. Sie beschäftigt sich also überwiegend mit Handwerkern, die sich fern der Heimat auf den Tod vorbereiteten. Sie erweitert damit wesentlich die Studien über Testamente von Fremden in Venedig (Braunstein 1977, 1984, 1987, 1998; Imhaus 1997), Rom (Schulz 1991, 1995), Florenz (Franceschini 1989) und London (Jenks 1986). Noch seltener sind Untersuchungen von Handwerkertestamenten, von denen ausserhalb Venedigs kaum mittelalterliche Bestände bekannt sind.

Hollberg fokussiert auf die Frage, wie weit die Deutschen in die venezianische Gesellschaft integriert waren und wie stark ihre Bindung an ihren Herkunftsort noch war, wobei sie zwischen den drei Bezugsfeldern Deutschland, andere Deutsche in Venedig und venezianisches Gemeinwesen unterscheidet. Leider beschränkt sie sich darauf, ihre Feststellungen mit Aussagen in allgemeinen Studien zu venezianischen Testamenten zu vergleichen, und verzichtet auf die Erstellung eines eigenen Vergleichsamples, der eine noch zuverlässigere Verifizierung erlaubt hätte.

Hollberg kann neue Erkenntnisse präsentieren, die in vielen Punkten die bisherige Lehrmeinung zum Verhalten der Deutschen in Venedig grundlegend revidieren. Sie schliesst anhand einer sorgfältigen Analyse der durchschnittlich acht Legate pro Urkunde, die je zur Hälfte eine religiöse oder profane Zweckbestimmung hatten, auf eine weitgehende Integration der Deutschen in die venezianische Gesellschaft. Diese Menschen sammelten sich nicht um ein kirchliches Zentrum und sie hatten auch kein enges Verhältnis zur Kirche San Bartolomeo beim Rialto, wo die deutschen Kaufleute den Sankt-Sebaldus-Altar pflegten. Sie suchten offensichtlich auch keine räumliche Nähe zu den anderen Deutschen, denn sie wohnten über die ganze Stadt verteilt. Identitätsstiftend waren also weder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirchgemeinde noch die Nachbarschaft. Einzig in den Vergabungen an die deutschen Bruderschaften, die ihre konstituierenden Elemente im Beruf und in der Herkunft hatten, kann sie ein Element finden, das die deutschen Testamente von venezianischen unterscheidet. Doch auch hier war offensichtlich weniger der Bezug zu Deutschland der entscheidende, als die Verbindung zu einer bestimmten Berufsgruppe. Hollberg plädiert folglich dafür, dass nicht mehr von einer «deutschen Kolonie» in Venedig gesprochen werden sollte. Offen bleibt allerdings die Frage, wie viele Deutsche diesem Integrationsmuster nicht entsprachen, sondern nach Abschluss des durch den Beruf bestimmten Lebens abschnitts in ihre Heimat zurückkehrten und deshalb kein Testament in Venedig hinterliessen.

Der Wert von Hollbergs Arbeit liegt einerseits in der auf einer überzeugenden Argumentation beruhenden neuen Darstellung des Verhaltens von deutschen Handwerkern in einer fremden Stadt. Es fällt angenehm auf, dass es der Autorin gelingt, flüssig zu formulieren und sich nicht in der langweiligen und wissenschaftlich unergiebigen Präsentation der grossen Zahl ausgewerteter Daten zu verlieren. Dem sorgfältig lektorierten Textteil folgt allerdings ein Anhang mit ärgerlichen Druckfehlern. Ihre Arbeit zeichnet sich andererseits auch dadurch aus, dass sie Ausgangspunkt und Initiantin für weitere Forschung sein wird. Aufbauend auf diese Studie müssten die sozialen Annäherungsprozesse (Integration, Adaption, Parallelgesellschaft, Akkulturation usw.) thematisiert und auf weitere Gruppen von Fremden in Venedig ausgeweitet werden. Der reiche Ertrag ihrer Recherche sollte auch dazu ermuntern, die wenigen Einzelstudien zur deutschen Präsenz in Venedig von Simonsfeld (1887), Heyd (1874, 1890), Roesch (1982, 1986) und Braunstein (s. o.) zu einer umfassenden Darstellung zu erweitern. Dass es ihr gelungen ist, Notare zu identifizieren, mit denen Deutsche in der Lagunenstadt bevorzugt arbeiteten, sollte es auch erlauben, in den nur schwer erschliessbaren Notariatsarchiven weitere notariell beglaubigte Urkunden mit Bezug zu Deutschen zu finden.

Zitierweise:
Kurt Weissen: Rezension zu: Cecilie Hollberg: Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 234-235.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 234-235.

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